CREATIVE STORY

Wohnmaschine – Cité radieuse

Die Cité radieuse erinnert mit Ihren Fensterbändern und Loggien eher an ein Kreuzfahrtschiff, als an ein Wohnhaus.
An einer Ausfallstraße im Süden Marseilles und unweit des Meeres liegt die Unité d’Habitation Cité radieuse wie ein Kreuzfahrtschiff vor Anker. Die außergewöhnliche, auf Stützen schwebende Wohneinheit (=Unité d’Habitation) hat seit ihrer Fertigstellung im Jahr 1952 nicht nur Begeisterung, sondern auch jede Menge Kontroversen ausgelöst. Genauso wie ihr eigenwilliger Erfinder: Le Corbusier. Der schweizerisch-französische Architekturtheoretiker, Möbel-Designer und Universalkünstler gilt trotz seiner umstrittenen Persönlichkeit als einer der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts und mit seinen Betonbauten als Begründer des Architekturstils des Brutalismus. Die Cité radieuse wird als Initialbau dieses Stils angesehen und genießt inzwischen UNESCO-Welterbe-Status.

Mit der Unité d’Habitation – umgangssprachlich „Wohnmaschine“ – schuf Corbusier einen völlig neuen Wohnhaustyp und sein Leitbild der „vertikalen Stadt“. Dabei stapelte er Wohnen und andere Funktionen der herkömmlichen Stadt und integrierte alle wesentlichen Einrichtungen des täglichen Bedarfs: Geschäfte, Restaurants und ein Hotel bis hin zu Kindergarten, Schule und Kino. Durch standardisierte Serienproduktion und massenhafte Wiederholung an vielen Orten sollte Wirtschaftlichkeit erreicht und den Bewohnern ein höherer Wohnkomfort ermöglicht werden. Daher gelten die Unités d’Habitation – von denen später noch vier weitere (drei in Frankreich, eine in Berlin) errichtet wurden – als Vorläufer der Plattenbauten.

Der Skelettbau aus Stahlbeton ist 135 m lang, 25 m breit und nimmt in seinen 18 Geschoßen insgesamt 337 Wohnungen und circa 1500 Bewohner auf. Die geschickt angeordneten, lichtdurchfluteten Appartements sind als ineinander verschränkte Maisonettewohnungen zweigeschossig ausgebildet; bei den meisten Wohnungen in Ost-West-Ausrichtung. Alle Maße des Gebäudes wurden nach dem Modulor bestimmt, einem anthropometrischen Maßsystem, das von Corbusier – in Anlehnung an Vitruv – entwickelt wurde, um der Architektur wieder ein menschliches Maß und Ordnung zu geben.

Highlight, im wahrsten Sinne des Wortes, ist aber mit Sicherheit die begehbare Dachlandschaft, die einen atemberaubenden Panoramablick von der Mittelmeerküste, über die Stadt und das Stade Vélodrome (der Heimat des Fußballclubs Olympique Marseille) bis hin zu den Ausläufern der Südalpen bietet. Hier – in luftiger Höhe von 56 Metern – sind der Kindergarten, eine Turnhalle, ein Freilufttheater und ein Kinderpool samt Spielplatz angesiedelt. Ein circa 300 m langes Jogging-Oval umschließt die außergewöhnliche Dachterrasse, die mit ihren unterschiedlichen Baukörpern beinahe wie ein Skulpturengarten wirkt.

Das Konzept der „Wohnmaschine“, das eine Realisierung unabhängig von lokalen Begebenheiten ohne Konzessionen an den jeweiligen Kontext vorsah und Corbusiers Weltbild eines standardisierten Wohnens wurde von der Öffentlichkeit kontroversiell diskutiert. Heute gilt der äußerlich stark in die Jahre gekommene Bau als absolute Architekturikone und Pilgerstätte der Architekturfreaks – und als hippe Wohn-/Arbeitsstätte einer jungen, kunstaffinen Generation.

Cité radieuse – Marseille, Frankreich | Projekt-Reportage | Architekturfotografie © Alexander Brüll, 2022